Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung „Horror Vacui“ im Düsseldorfer Landtag von Stefan Hölscher
Sehr geehrte Mitglieder des Nordrhein-Westfälischen Landtages,
sehr geehrte Mitglieder der SPD-Landtagsfraktion,
sehr geehrte Frau Voigt-Küppers,
liebe Freunde und Verwandte des Künstlers,
liebe kunstinteressierten Gäste,
meine Damen und Herren,
ich bedanke mich für das in mich gesetzte Vertrauen, hier heute über die Arbeiten von Christian Walter sprechen zu dürfen und hoffe, dieses Vertrauen natürlich in ihrer aller Sinne nicht zu enttäuschen.
Bevor ich mich dem eigentlichen Gegenstand meiner Rede, der Bilderwelt der Ausstellung zuwende, nun noch ein paar Worte zum ausstellenden Künstler.
Christian Walter hat von 1989-1994 an der Kunstakademie Münster bei Hermann Josef Kuhna studiert. Er arbeitet seit 2002 als Realschullehrer für das Fach Kunst und lebt in Wegberg. Trotz seiner engagierten Lehrertätigkeit hat er sich dem Atelier nicht entfremdet, sondern ist zugleich Maler geblieben. Seit seiner Studienzeit hat er kontinuierlich auch an der Leinwand gearbeitet und regelmäßig Ausstellungen realisiert.
„Horror Vacui“ – so der Titel der Ausstellung, das mag auch die Furcht des Malers vor der leeren Leinwand sein, die beständig und immer wieder neu „das Bild“ von ihm verlangt oder es mag die des Schreibers einer Ansprache vor dem leeren Blatt Papier sein, das ihn daran gemahnt, jetzt und hier die richtigen Worte zu finden.
Auf den ersten Blick scheint ein Ausstellungstitel wie „Horror Vacui“ angesichts der Fülle oder gar Opulenz in Figur, Form und Farbe, wie sie die Malerei Christian Walters auszeichnet irgendwie unangemessen zu sein. Diesen Schrecken müssen wir also hier heute nicht fürchten- oder doch? Erlauben Sie mir ein anfängliches Umkreisen des Begriffs „Horror Vacui“, denn ich möchte im Durchgang durch eine Betrachtung der Bilderwelt Christian Walters noch einmal auf ihn zurückkommen, um auf einen weiteren Horizont hinzuweisen, vor dem wir den Bildern dieser Ausstellung, möglicherweise jedoch Gegenwartskunst überhaupt heute begegnen können oder sogar sollten.
Ursprünglich von Aristoteles eingeführt, bezeichnet der „Schrecken der Leere“ ein Naturprinzip, dessen Wirksamkeit in der beobachtbaren Tatsache gründet, dass in der Welt, in der wir leben, „überall etwas ist“. Versucht man an einer Stelle alles zu entfernen, saugt es das Umgebende unwiderstehlich an. Sei es, dass eine Industriebrache, eine Ruine oder der ungepflegte Schrebergarten von der Natur zurückerobert wird. Sei es, dass ein Gefäß, aus dem ich Wasser ausgieße, Luft hineinströmt.
Später auf die Sphäre der Kunst und des Ästhetischen angewandt bezeichnete der Ausdruck „Horror Vacui“ meist künstlerische Darstellungsweisen, in der sich die Angst vor der Leere in dröhnender gestalterischer Opulenz und Fülle auszutoben schien, in der die Klarheit und Ruhe monochromer und leerer Flächen gemieden wurde. Eine solche Angst vermeinte man zuzeiten in der Malerei des Barock zu erkennen oder den Gemälden des Fin de Siecle. So verstanden verweist der Titel auf einen Mangel hin, darauf, dass die Fülle eine Leere zudecken, kaschieren oder überspielen soll, von der der Künstler ablenken will, vor der er sich sogar fürchten mag. Die Bilder wären also gleichsam nur als Vorhang, als eine Form des Verdeckens dieses Mangels zu verstehen. Wovor fürchtet sich Christian Walter? – Nein – so einfach ist die Sache nicht. Wie Sie richtig vermuten, möchte ich die Titelgebung der Ausstellung nicht im Sinne des Gesagten als Selbstbezichtigung des Künstlers interpretieren, sondern in der Betrachtung der Bilder einer alternativen Verstehensmöglichkeit nachgehen.
Was für barocke Kampfgetümmel, viktorianische Mythendarstellungen oder die prunkvollen Ballsäle der Malerei des Fin de Siecle gelten mag, dass sie den Betrachter mit ihrem visuellen Gepränge zu überwältigen versuchen, gilt für die hier ausgestellten Bilder meiner Ansicht nach nicht. Bei längerer Betrachtung kann einem sehr wohl das Gefühl beschleichen, dass sie, also die Bilder – wenden wir es mal ins Akustische – still sind, ihnen eine eigentümliche Art von Verschwiegenheit eigen ist. Ich möchte sie als eine Weise verstehen, an die Abwesenheit von Etwas zu rühren oder etwas nicht zu sagen und gerade dadurch einen Sog auf unsere Imagination und Phantasie auszuüben, der einen Raum für das Nicht-Gesagte, Nicht-Gezeigte zu öffnen vermag.
Gehen wir aber zunächst mal von dem aus, was konkret zu sehen ist, was uns der „Vorhang“, die Bildoberfläche zeigt. Es lassen sich gleichsam drei Perspektiven, Sichtweisen oder Orientierungen ausmachen, zwischen denen Gestaltung und Wahrnehmung der Bildwelt Christian Walters changieren. Sie gehen fortwährend ineinander über.
Da ist zum einen eine sachlich reduzierte, teils bis zum Antiseptischen oder bis ins Technoide geglättete figürliche oder architektonische Darstellung, wie der magische Realismus eines Konrad Klapheck, der hier sozusagen ins Botanische oder Zoologische gewendet wird. Das ist zum anderen die Wiederholung von ähnlichen oder identischen Strukturelementen, die ein ornamentales bzw. optisches Muster bilden. Das reicht von einer ornamentalen Auffassung von architektonischen Strukturen wie Fensterverstrebungen, Treppengeländern oder Rolltreppenelementen, die sich durch Spiegelungen zudem vervielfältigen können bis hin zu tapetenähnlichen Flächenmustern, wie man sie in der Op-Art eines Victor Vasareley findet.
Da ist als drittes Orientierungsfeld eine Naturdarstellung bzw. eine Darstellung botanischer oder zoologischer Formen, die bis hin zur exotischen Opulenz in Form von Farbe gesteigert sein kann, zugleich an Buchillustrationen oder an die Poesie der naiven Naturdarstellung des französischen Malers und Zöllners Rousseau erinnert.
Die Nähe zwischen Biologischem und Technoidem zeigt sich nicht nur in der Kombination von Innenarchitektur und botanischen Einsprengseln in Pflanzentöpfen. In den pflanzlichen Formen selbst sind bereits verschiedene Perspektiven miteinander verbunden, wie exotische Opulenz, ornamentale Umdeutung und technoide Sachlichkeit.
Zu sehen ist z.B. eine dynamisch-abstrakte Form die einerseits wie eine exotische Blüte aus dem Urwald Sumatras oder Borneos daherkommt, andererseits dem Bauteil der übernächsten Staubsaugergeneration ähneln könnte.
Da ist jener Schmetterling inmitten gelber Blütenpracht, den wahrscheinlich jeder Lepidopterologe (Schmetterlingsforscher) sofort bestimmen könnte, aber es ist nicht leicht zu entscheiden, ob er einem Tropenhaus entflogen ist, es sich um eine Kunststoffimitation handelt – ein Modell – , oder möglicherweise auch nur um die virtuelle Realität einer Computeranimation für die nächste Produktion aus dem Hause Disney.
Die Mehrdeutigkeit der Darstellung und die Widersprüchlichkeit der Anspielungen ist den Bildern latent.
Sie wiederholen sich auch auf einer Ebene, die die gesamte Bildstruktur und Auffassung betrifft:
Da ist eine domestizierte Natur, die in das Tapetenmuster einer Innenraumgestaltung verwandelt wird. Da werden architektonische Formen und Details, optische Muster und pflanzliche Naturformen zu einem Flächengefüge verzahnt, das zwar Plastizität und eine bildräumliche Staffelung aufweist, dabei aber eher den Charakter eines visuellen Dickichts annimmt, das einem das Eintreten in den dargestellten virtuellen Raum erschwert oder gar verwehrt. Wie durch die Maske auf der Glasscheibe im Bild „Eskapade“, die einen aus der dahinterliegenden Vegetation anschaut und zugleich eine undurchdringliche Fläche im Vordergrund anzeigt, wird man immer wieder auf die schöne, saubere, bemalte Oberfläche zurückverwiesen.
Die Bildoberfläche selbst könnte eine Maske sein. Damit sind in ihr einladende Bildräumlichkeit als Sinnangebot und schöne, aber maskenhafte Bildoberflächlichkeit als Sinnentzug unablösbar ineinander verschränkt.
Auch die Gradwanderung zwischen Organischem und Technoidem verhindert das reibungslose Hineinphantasieren in eine Tropenhaus- oder Gewächshausidylle. Die laute, farblich kontrastreiche, an formalen Strukturen reiche, insgesamt visuell opulente Oberfläche verstärkt bei längerem Schauen die Stille. Sie erzeugt die Leere, die sie auf den ersten Blick zuzudecken versprach, auf einer zweiten Ebene noch einmal. Von der energischen Stille oder gar Stummheit der Bilder, von der opulenten Leere der Malerei, die sich im Zwischenraum ihrer Widersprüche auftut, kann für die, die sich ihr aussetzen, ein imaginativer Sog ausgehen, wie das Entstehen einer Erwartung auf ein plötzliches Hervorbrechen, ein unvermitteltes Kippen von der Idylle zur Katastrophe, von einer schmucken Oberfläche in einen alptraumhaften Abgrund.
Die pralle Oberfläche scheint in ihrer ornamentalen Bändigung und ihrer technoiden Sachlichkeit, eine latente, eine kaum zurückzuhaltende Energie zu verbergen, die unvermittelt hervorbrechen könnte. Als würde auf den Bildern die Atmosphäre einer Vorahnung liegen. Obwohl das Bildgefüge farblich kontrastierend, das architektonische Interieur durch pflanzliche Formen belebt ist, erscheint doch alles wie erstarrt, wie in einem Traumgesicht stillgestellt.
Das Wolfsrudel, das sich ins Schaufenster eines Modegeschäfts verirrt hat und dort daran scheitert, die desinteressierten humanoiden Ausstellungsplastiken zu beeindrucken, die nichts weiter als ihre nackte, künstliche Oberfläche anzubieten haben, führt die Unmöglichkeit einer Begegnung zwischen Natur und menschlicher Alltagswelt ins Humoreske.
Die essentielle Leere in der visuell opulenten Farb- und Formwelt Christian Walters ist ein subversives Element, das seine Wirkung subkutan, schleichend entfaltet und eben nicht als plakative Botschaft wirkt. Die Bilder sagen nichts, im Gegenteil, sie sind ganz still, trotz großer Klarheit des Bildaufbaus liegt auf ihnen eine Verschwiegenheit, die sich der Illusion abschließenden Verstehens entgegenstellt. Noch doppelbödiger wird die ganze Angelegenheit, wenn einem dämmert, dass die widersprüchliche Unentwirrbarkeit von technoider Funktionalität, poetischer Naturphantasie und konventioneller Musterwiederholung nicht nur unsere Lebensumwelt betrifft, sondern die Widersprüchlichkeit unserer ganzen gegenwärtigen Wahrnehmungs- und Lebensweise selbst. Interessanterweise könnten es gerade Bilder sein, nicht irgendwelche Bilder, sondern „Bilder der Kunst“, die den alltäglichen Mahlstrom der Bilder- und Nachrichtenfluten verlangsamen oder gar anzuhalten in der Lage sind, um einen Blick auf Schichten darunter zu gestatten, von denen wir vielleicht fürchten, sie könnten leer sein. Aber erst, wenn wir dieses Risiko eingehen, können wir der Tätigkeit unserer eigenen Wahrnehmung und Phantasie begegnen und in dieser Tätigkeit die Möglichkeit ergreifen, das, was uns täglich umgibt, anders zu sehen und zu behandeln.
Der „Horror Vacui“ ist nicht nur ein Naturprinzip, er umgibt uns tagtäglich, wenn wir die Kommunikationspause durch den Griff zum Phone, ob nun I- oder Smart-, überbrücken, wenn wir das Fremde und Unverstandene mit einer schnellen Bewertung einordnen, weil eine Meinung zu haben wichtiger ist, als die schweigende Stille, die sich dem Zweifel aussetzt:
Ich könnte etwas Wichtiges über das, von dem ich da spreche und was ich da anschaue gar nicht wissen, noch gar nicht wahrgenommen haben. Wo wir öffentlich Fragen nicht stellen können, weil wir Angst davor haben, dass die fehlende Antwort auf uns zurück fällt und dadurch der Streit um Antworten wichtiger wird als die Suche nach den richtigen Fragen. Fragen erzeugen Leere und damit Unsicherheit, aber eine ausgehaltene Leere mag auch wichtige Fragen erst sichtbar werden lassen. Orte, an denen beide zugelassen sind, haben erst das Potential, unseren Blick aus den ornamantalen Mustern unserer Bewältigungs-funktionalität zu befreien. In diesem Sinne ist Kunst kein lebensferner Luxus oder eine Ware des kapitalistischen Marktes, sondern sie ist unhintergehbar notwendige Bedingung für die Erneuerungsfähigkeit einer Gesellschaft. Kunst kann uns dazu bringen, dem „Horror Vacui“ gerade nicht auszuweichen, sondern in eine notwendige Leere vorzustoßen, in der das gewohnte Funktionieren still gestellt, das Immer-Schon-Verstanden-Haben aufgehalten wird, nicht um sogleich etwas anderes zu sagen oder zu zeigen, was wichtiger, dringender oder wahrer sein soll, sondern um an den Ort zu gelangen, von dem her wir selbst anfangen, erst phantasierend imaginativ dann real Türen aufzustoßen, Räume für die Erprobung eines anderen Denkens und eines anderen Blickes zu öffnen, so wie Christian Walter es hier z.B. für unsere Beziehung zur Natur tut, indem er ihre Leere in den hergestellten Idyllen eines domestizierten Restes abgründig herauspräpariert, aber zugleich poetische Anspielungen an Naturphantasie und Natursehnsucht oder sogar Naturgewalt zulässt.
Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit,
wünsche Ihnen im Sinne des Gesagten einen abenteuerlichen und genussvollen Ausflug ins Leere.
Stefan Hölscher
Düsseldorf, 21.01.2015